Vortrags- und Gesprächsabend: Eine Kirche, viele Kulturen
„Begegnung erfordert Identität“: Evangelische Kirche in der Debatte um Willkommenskultur
21.03.2016 kf Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
Kai Fuchs"Die Evangelische Kirche muss sich dieser Ideologie entgegenstellen, weil sie sonst nicht mehr Kirche Jesu Christi sein könnte." Deutliche Worte zu politischen Forderungen von rechtsaußen fand beim Vortrags- und Gesprächsabend über Rolle, Aufgaben und Zukunft der Evangelischen Kirche in einer multikulturellen Gesellschaft der Studienleiter des Theologischen Seminars der EKHN in Herborn, der Theologe, Pfarrer und Professor für Kirchentheorie und Kybernetik Dr. Peter Scherle, in Seligenstadt vor und rund 30 Interessierten.Keine Frage: Die Kirchen in Deutschland arbeiten intensiv mit an einer Willkommenskultur für Flüchtlinge. Auch die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) setzt sich mit ihren Verlautbarungen ebenso wie mit ihrem praktischen Handeln dafür ein, dass Menschen auf der Flucht vor Krieg und Gewalt Schutz finden. Kirchengemeinden stellen Wohnraum zur Verfügung, gewähren in schwierigen Fällen Kirchenasyl, öffnen ihre Gemeindehäuser für Deutschkurse und bieten selbst viele Projekte an, die das Ankommen erleichtern. Ihre Aktiven bringen sich in das Netzwerk der Flüchtlingshelfer ein und öffnen sozialdiakonische Angebote wie Kleiderkammern und Lebensmittelhilfen. Dafür ernten sie Dank und Anerkennung, zuweilen auch Kritik und Unverständnis.
Nicht nur deswegen fragen sich viele verstärkt, was die Rolle der Kirche aus evangelischem Verständnis ist, wo die theologischen Grundlagen für ihr Engagement liegen – und wie sich die evangelische Kirche im Zuge dieser neuen Herausforderungen selbst verändern oder weiterentwickeln wird.
Um diese Fragen zu benennen und möglichen Antworten auf den Grund zu gehen, hatte das Evangelische Dekanat Rodgau am vergangenen Mittwochabend Professor Dr. Peter Scherle zu Gast. Der Theologe und Pfarrer leitet das Theologische Seminar der EKHN in Herborn und lehrt dort Kirchentheorie und Kybernetik, einen Zweig der Theologie, der sich mit Fragen kirchlichen Leitens und Handelns befasst.
Seine Ausführungen begann Professor Scherle mit einer Einordnung der gegenwärtigen Situation in Deutschland und Europa aus zivilgesellschaftlicher und staatsrechtlicher Perspektive. Dabei sei, so Scherle, zweierlei zu beachten: Das bedingungslose Asylrecht für Menschen, die verfolgt werden oder vor Krieg fliehen, „das keine Obergrenze kennt“; aber auch das legitime Recht von Staaten und Zivilgesellschaften, etwa über die Staatsbürgerschaft zu definieren, wem welche staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten zuteil würden – und wem nicht.
»Auch die Kirchen sollen nach dem Willen dieser Ideologie aufhören, das Evangelium von der Barmherzigkeit Gottes zu verkündigen, und stattdessen in Gottes Namen die Ausgrenzung und Verfolgung legitimieren. Die Evangelische Kirche muss sich dieser Ideologie entgegenstellen, weil sie sonst nicht mehr Kirche Jesu Christi sein könnte.«
Dabei führten einige ungeachtet der Unterscheidung zwischen Asyl, Migration und Immigration einen „Kulturkampf um das so genannte christliche Abendland, das gegen alle Richtungen abgeschirmt werden soll, und träumen dabei von einer homogenen Gesellschaft, in der alles so ist wie früher“. Dahinter stehe oft die Vorstellung einer völkischen, in der Ethnie wurzelnden Zugehörigkeit, die im Kern rassistisch sei, überkommene Geschlechterrollen wiederbeleben oder Schwule und Lesben an den Rand der Gesellschaft zurückdrängen wolle. „Auch die Kirchen sollen nach dem Willen dieser Ideologie aufhören, das Evangelium von der Barmherzigkeit Gottes zu verkündigen, und stattdessen in Gottes Namen die Ausgrenzung und Verfolgung legitimieren. Die Evangelische Kirche muss sich dieser Ideologie entgegenstellen, weil sie sonst nicht mehr Kirche Jesu Christi sein könnte.“
Andererseits „müssen wir ernst nehmen, dass Zuwanderung für Menschen in prekären Lebensverhältnissen eine Bedrohung darstellt. Abstiegsängste sind nicht ganz grundlos mit Blick auf immer mehr hochgradig prekäre Arbeitsverhältnisse.“ Diese sozioökonomische Konfliktlage sieht Scherle in den politischen Programmen der etablierten Parteien „nicht mehr widergespiegelt“. Integration könne aber nur gelingen, „wo wir bereit sind, allen Menschen die Chance auf Arbeit, Aufstieg und Anerkennung sowie die Beteiligung als Bürger zu bieten und ihre Stimmen hörbar zu machen“.
Aus heutiger Sicht wirke „der Traum harmonischer Multikulturalität unpolitisch, weil er harte Konflikte und Auseinandersetzungen aus kulturellen oder religiösen Gründen entweder leugnet oder unsichtbar macht“, und weil die unterschiedlichen Lebenslagen der Menschen zu wenig berücksichtigt würden. „Wir reden hier von einem sehr konflikthaften Prozess, und wir tun niemandem einen Gefallen, wenn wir das verschweigen.“ Zur Akzeptanz gehöre auch, es zu ertragen, wenn Zugewanderte ihre eigene religiöse und kulturelle Identität behalten wollen. „Es wird zunehmend normaler, dass Menschen verschiedene Kulturen kultivieren und etwa gleichzeitig Deutscher und Afghane sind.“ Notwendig sei, dass alle das Grundgesetz als obersten rechtlichen Rahmen akzeptierten.
In der öffentlichen, in Politik und Medien geführten Debatte gerade zwischen diesen Polen vermisst Scherle verstärkt den politischen Streit, und die Bereitschaft zur politischen Richtungsweisung und Gestaltung – wie bei der Frage, ob Deutschland nun ein Einwanderungsland ist, oder nicht: Statt Entscheidungen zur Zukunft Deutschlands zu treffen und diese konsequent umzusetzen, verzichte die Politik häufig auf politische Steuerung und die Übernahme politischer Verantwortung. Es gehe in der Debatte – etwa bei der „Euro-Rettung“ oder der Abschottung Europas vor Flüchtlingen – oft um rein technische Lösungen, die als ‚alternativlos‘ oder mit Parolen wie „Wir schaffen das!“ fundiert würden, statt im Parteiendiskurs oder im politischen Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern nach Lösungen zu suchen und für sie zu werben.
Für die Kirchen sei „allein mit einzelnen Bibelversen in dieser Debatte auch aus theologischer Richtung nicht viel anzufangen, denn sie sind nicht unserer Kirche in dieser Zeit gesagt“. Vielmehr „müssen wir versuchen, so etwas wie ein gesamtkirchliches Zeugnis als Richtung zu bekommen“. Leitbild könne hier die unter anderem in der Offenbarung geschilderte Vision der Hoffnung auf eine neue Schöpfung ohne Abgrenzung vom Fremden und ohne Gewalt sein. „Hier wird eine ganz andere Welt gemalt, in der alle Menschen inkludiert sind“, wobei auch die biblischen Texte von einer zutiefst konflikthaften Wirklichkeit zwischen den erlebten Ungerechtigkeiten und Ausgrenzungen in der Welt sowie der Hoffnung geprägt seien, dass die Wirkung von Gottes heilender Kraft größer ist.
„Als Kirche Jesu Christi sollen wir die Hoffnung stark machen, dass alle in die neue Stadt Gottes hineingelassen werden.“ Allerdings würden die Kirchen, auch die evangelische, „diesen Herausforderungen nicht immer gerecht, weil sie sich selbst immer wieder in Zuschreibungen von etwa konfessioneller Zugehörigkeit und Abgrenzung begeben hätten und begäben.
Gleichzeitig sammelten sie verstärkt Erfahrungen mit dem Aufbrechen dieser überlieferten Grenzen: In der Begegnung der hiesigen Konfessionen – übrigens hauptsächlich aus den Migrationsbewegungen etwa im Zuge der Industrialisierung oder des Zweiten Weltkriegs entstanden –, in der Öffnung von Kirchen und Gemeindehäusern für Migrationsgemeinden aus aller Welt oder auch in der Dienstgemeinschaft mit Christen anderer Konfessionen, ja sogar „mit muslimischen Erzieherinnen türkischer Herkunft oder dem iranischen Arzt, der hier Asyl fand“.
»Kirche mit anderen ist immer auch eine andere Kirche. Diese Feststellung betrifft uns jetzt auch mit Blick auf Menschen einer anderen oder gar keiner Religion.«
Über zweierlei müssten sich Kirchen und Gesellschaft im theologischen wie im politischen Kontext aber im Klaren sein. Zum einen: „Kirche mit anderen ist immer auch eine andere Kirche. Diese Feststellung betrifft uns jetzt auch mit Blick auf Menschen einer anderen oder gar keiner Religion.“ Und: „Wenn wir uns für andere öffnen, eröffnet das auch die Frage, wie wir uns selbst verstehen, was unsere eigene Identität ist. Begegnung erfordert Identität.
Für eine kirchliche Gemeinschaft auch mit Menschen, die sich nicht zu Christinnen und Christen zählen, sei es Grundvoraussetzung, „dass sich diese Menschen auf die Kirche mit Werten und Prinzipien einlassen wollen“.
„Und wenn wir davon ausgehen, dass auch Atheisten oder Muslime von Gott gerufen werden können, müssen wir über ein anderes evangelisches Profil nachdenken: Wir können uns nur dann gut öffnen, wenn gleichzeitig im Kern der Kirche das christliche Profil gelebt wird und lebendig ist. Je mehr wir uns für andere öffnen, desto klarer muss die Leitung der Kirche und ihrer Einrichtungen konzentriert evangelisch sein.
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