„Der Blick auf die Flüchtlinge hat sich geändert“
30.10.2018 bj Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
Diakonie Hessen/ KehrerHildegund Niebch, Referentin für Flucht und Integration bei der Diakonie HessenVom 15. bis 20 Oktober 2018 fand in Griechenland die 15. Europäische Asylkonferenz statt. Etwa 150 Flüchtlingsexperten aus 16 verschiedenen europäischen Ländern sind auf der Konferenz auf Chios und in Athen zusammengekommen. Organisiert wurde dieses Treffen von der Diakonie Deutschland, CCME Brüssel (Churches Commission for Migrants in Europe) und der Orthodoxen Kirche in Griechenland. Die Konferenz stand unter dem Motto „Solidarity First – zurück zu den europäischen Werten und Prinzipien“. Für die Diakonie Hessen war Hildegund Niebch, Referentin für Flucht und Integration, vor Ort.
Frau Niebch, was war das Ziel der Asylkonferenz in Griechenland?
Es ging sowohl um das Asylverfahren als auch um die Bewältigung der Flüchtlingsaufnahme in Griechenland. Besonders im Fokus standen die fünf ostägäischen Inseln – eine davon ist Chios –, in denen die EU sogenannte Hotspots etabliert hat. Diese Inseln liegen alle in Sichtweite der türkischen Küste. Regelmäßig kommen von dort Schlauchboote an. Immer wieder kommt es zu Kenterungen und Toten. Außerdem standen Besuche von kirchlichen Projekten auf der Tagesordnung, Vernetzung mit Aktiven in der Flüchtlingsarbeit aus anderen Ländern Europas und der Austausch über die Zukunft der europäischen Asylpolitik.
Wer hat an dem Treffen sonst noch teilgenommen?
Spannend war die bunte Mischung der Teilnehmenden aus 16 europäischen Ländern: Sozialarbeiter*innen aus der Flüchtlingsberatung, kirchlich und diakonische Leitungspersonen, Rechtsanwält*innen, Flüchtlings- und Menschenrechtsaktivist*innen auch von nicht-kirchlichen Institutionen. Bedrückt haben mich die Ängste der ungarischen Kolleg*innen. Hintergrund ist ein neues Gesetz, das Hilfe für Flüchtlinge unter Strafe stellt.
Welche Erkenntnis nehmen Sie aus Griechenland mit für Ihre Arbeit in der Diakonie Hessen?
Das Konzept der Lager, verbunden mit einer Residenzpflicht, scheint europaweit etabliert zu werden. In Griechenland sind es die Hotspots, bei uns die AnkER-Zentren. Natürlich gibt es Unterschiede. Die Hotspots in Griechenland sind überfüllt. Vial z.B., der Hotspot auf Chios, hat ca. 1.000 Plätze, derzeit leben dort aber über 2.000 Personen auf engstem Raum, z.T. in Zelten, unter miserablen hygienischen Bedingungen. „Eine Schande“, so hat Entwicklungshilfeminister Gerd Müller, der zeitgleich mit uns in Griechenland war, den Hotspot Moria auf Lesbos bezeichnet. Es gibt aber auch Gemeinsames: Solche Lager – hier wie dort - liegen weit außerhalb und weit entfernt von jeder Infrastruktur. Langeweile, Unsicherheit über die Zukunft, kein Zugang zu Arbeit, zu Bildung und zu Einheimischen bestimmen den Alltag. Zudem schafft die große Anzahl der Untergebrachten Probleme, die erst durch dieses Konzept erzeugt werden: Zunahme von Gewalt, Missbrauch, Drogen, Alkohol; vorhandene Traumatisierungen werden verstärkt. Unsere Diakonie-Hessen-Kampagne „Ankern statt Zentren“ kommt da genau richtig.
Gibt es weitere Erkenntnisse oder Vergleichbarkeiten?
Europaweit hat sich der Blick auf Flüchtlinge geändert. Überall steht das Bemühen im Vordergrund, sie wieder loszuwerden anstatt den Fokus auf die Schutzbedürftigkeit zu richten. Auf den fünf Inseln in Griechenland zeigt sich das durch das „Border Procedure“: Dieses Verfahren ist aufgrund des EU-Türkei-Deals immer vorgeschaltet und hat zur Folge, dass Flüchtlingen die Abschiebung in die Türkei droht, weil angenommen wird, die Türkei sei ein sicherer Drittstaat. Bei uns und in anderen europäischen Ländern ist es die „Dublin-Prüfung“, die vor jeder Asylantragstellung erfolgt. Danach sind fast alle Flüchtlinge über ein anderes EU-Land nach Deutschland eingereist und müssen befürchten, dorthin zurückgeschickt zu werden. Warum Menschen geflohen sind, das scheint niemand mehr zu interessieren.
Haben Sie diakonisch-kirchliche Projekte besucht, von denen wir lernen können?
In Athen waren wir bei der evangelischen Gemeinde, die in ganz Griechenland nur 5.000 Mitglieder hat. Sie betreiben eine Erstunterkunft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, ein Gemeinschaftshaus und eine Lernwerkstatt. Hier könne junge Geflüchtete zusammen mit Studierenden der technischen Universität handwerkliche Fähigkeiten erlernen. Dies helfe, Lösungen für ihr Leben zu finden, denn – so die Annahme - wer Praktisches zu Wege bringt, gewinnt Selbstvertrauen, um auch sein Leben zu bewältigen. Im „Integrationshaus“ der Gemeinde sind Flüchtlingsfamilien zusammen mit den Familien der Mitarbeitenden untergebracht. Auch der Gottesdienstraum befindet sich dort. Bei allen Aktivitäten verstehen sich die kirchlichen Hauptamtlichen und Freiwilligen als „Wegbegleiter*innen auf Zeit“. Sie wissen, viele Flüchtlinge wollen weiter. Sie werden nicht bleiben. Ihre Arbeit und ihre Haltung haben mich beeindruckt.
Mehr über die Ergebnisse dieser Konferenz enthält die „Erklärung der Konferenzteilnehmer der 15. Europäischen Asylkonferenz“
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