Interview
Flüchtlingspolitik für alle gerechter gestalten
Medienhaus EKHN25.05.2022 bj Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
Seit dem 24. Februar ist Krieg in der Ukraine: Über sechs Millionen Menschen sind bereits auf der Flucht und haben die Ukraine verlassen, zusätzlich mussten etwa acht Millionen Menschen innerhalb des Landes fliehen. Viele halten sich in angrenzenden Ländern auf, auch um den Kontakt zu ihren Angehörigen zu halten. In Deutschland sind fast 800.000 Menschen angekommen, über 50.000 in Hessen, mehr als 36.000 in Rheinland-Pfalz. Darunter vor allem Frauen und Kinder, aber auch junge Studierende aus der Ukraine und aus Drittstaaten.
Wir haben mit Andreas Lipsch, Interkultureller Beauftragter der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und Leiter der Abteilung Flucht, Interkulturelle Arbeit und Migration bei der Diakonie Hessen, gesprochen. Er zieht eine erste Bilanz und zeigt auf, was die Flüchtlingspolitik nun braucht.
Herr Lipsch, warum sind bisher weniger Ukrainer:innen in Deutschland angekommen als zunächst erwartet wurde?
Na ja, so wenige sind 800.000 registrierte Schutzsuchende ja eigentlich nicht. Aber richtig ist, dass der Großteil der Geflüchteten zunächst in Anrainerstaaten der Ukraine Schutz sucht. Dafür gibt es mehrere Gründe. Einmal lebten z.B. in Polen schon vor dem Krieg mehr als eine Million Ukrainer:innen; das heißt, es gab dort schon eine ukrainische Community und damit Anknüpfungsmöglichkeiten für Flüchtlinge aus der Ukraine. Auch sprachlich ist es für Menschen aus der Ukraine in osteuropäischen Staaten oft einfacher. Vor allem aber wollen die Menschen in der Nähe der Grenze bleiben, weil sie auf eine zeitnahe Rückkehrmöglichkeit hoffen. Sollte es die nicht geben und der Krieg länger dauern, werden sich voraussichtlich auch die Migrationsbewegungen ändern und mehr Menschen in andere europäische Staaten weiterwandern.
Was ist bei den Geflohenen aus der Ukraine anders als bei denen aus anderen Kriegsgebieten?
Was ihr Schicksal angeht, unterscheidet sie gar nicht so viel z.B. von Flüchtlingen aus Syrien, die ebenfalls vor einem brutalen Krieg und der Zerstörung der Städte geflohen sind. Was einen Unterschied macht, sind die Aufnahmebedingungen für Menschen aus der Ukraine. Für sie gibt es dank der Anwendung der Europäischen Richtlinie zum vorübergehenden Schutz und der bestehenden Visafreiheit offene Grenzen, Übergangsregelungen, um schnell einen rechtmäßigen Aufenthalt zu ermöglichen, die freie Wahl des Aufenthaltsortes innerhalb der EU und Deutschlands, die Unterbringung in Wohnungen statt in Sammellagern, Aufenthaltserlaubnisse ohne lange Asylverfahren sowie einen unmittelbaren Zugang zu Integrationskursen, zum Arbeitsmarkt und zum Studium. Wir begrüßen das sehr, sehen aber ein großes Problem darin, dass das alles für andere Flüchtlingsgruppen so nicht gilt. Wir erleben also flächendeckend eine eklatante Ungleichbehandlung von geflüchteten Menschen in Deutschland, die nicht rassistisch zu nennen mir persönlich schwerfällt.
Was muss geschehen, damit die Geflohenen aus anderen Kriegsgebieten nicht zu Flüchtlingen zweiter Klasse werden?
Sehr einfach: Die Rechte und Möglichkeiten, die jetzt die aus der Ukraine Geflüchteten bekommen, sollten auch allen anderen Flüchtlingsgruppen zuteilwerden. Das könnte der Anfang einer wirklich integrationsfreundlichen Flüchtlingspolitik in Deutschland, in Hessen und Rheinland-Pfalz sein. Der Anfang einer Flüchtlingspolitik, die die Menschenwürde und die Menschenrechte von Geflüchteten endlich ernst nimmt und entsprechend handelt. Ein erster Schritt könnte die Angleichung der Leistungen für Asylbewerber:innen an die Leistungen nach SGB II sein, damit würde insbesondere die Gesundheitsversorgung auf ein vergleichbares Niveau gebracht.
Was ist mit den Studierenden aus der Ukraine, die aus Drittstaaten kommen? Wie ergeht es ihnen in Deutschland, in Hessen und Rheinland-Pfalz?
Sie sind ein schlimmes Beispiel dafür, dass hierzulande sogar noch zwischen den aus der Ukraine Geflüchteten nach Herkunft und Hautfarbe unterschieden wird. Den Menschen, die aus Drittstaaten in die Ukraine gekommen waren, um dort zu studieren oder zu arbeiten, wird hier oft ohne jede Prüfung des Einzelfalles nahegelegt, in ihr Herkunftsland auszureisen. Insbesondere für Studierende, die ein Stipendium hatten oder bereits Gebühren entrichtet hatten, ist eine Rückkehr ohne Abschluss aber häufig besonders schwierig. Anders gesagt: Das aktuelle Behördenhandeln beschädigt und zerstört teilweise ganze Biografien und Lebensplanungen von jungen Menschen. Als Diakonie und Kirchen setzen wir uns dafür ein, dass ihre Perspektiven für einen Studienabschluss an anderen Universitäten in der EU geprüft und erwogen werden. Auch für diese Gruppe sind jedenfalls eine Registrierung und Hilfestellungen dringend notwendig.
Wie haben Diakonie und die Evangelischen Kirchen die Menschen aus der Ukraine in Hessen und Rheinland-Pfalz bereits unterstützt?
Landeskirchen und Gemeinden haben Unterkünfte für neu ankommende Flüchtlinge aus der Ukraine bereitgestellt, Ehrenamtliche engagieren sich zahlreich vor Ort, und nicht zuletzt die Migrations- und Flüchtlingsberatungsstellen in Regionalen Diakonischen Werken und Dekanaten unterstützen hochprofessionell das Ankommen der Menschen und sorgen dafür, dass sie ihr Recht bekommen, was leider häufig notwendig ist. In Hessen tun die Flüchtlingsberatungsstellen von Diakonie und Kirchen das übrigens nach wie vor ohne finanzielle Unterstützung durch das Land. In Rheinland-Pfalz ist das erfreulicherweise ganz anders.
Immer wieder hört man von umständlicher Bürokratie in den Behörden der Städte und Kommunen. Geflohene warten zum Teil viele Stunden, um dann unverrichteter Dinge in ihre Notunterkünfte zurückzukehren. Wie können die Kommunen und Städte das Leben der geflohenen Ukrainer*innen erleichtern? Woran hakt es noch?
Die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge nach der EU-Richtlinie zum vorübergehenden Schutz stellt die Behörden vor bislang unbekannte Aufgaben. Und wir erkennen an, dass in vielen Kommunen in Hessen und Rheinland-Pfalz viel getan wurde und wird, um die Aufnahme zu ermöglichen. Dennoch erreichen uns immer wieder Berichte, dass viele Ausländerbehörden noch immer eine Registrierung ablehnen, wenn die Menschen nicht auf dem für Asylsuchende üblichen Weg über die Erstaufnahmeeinrichtungen zugewiesen wurden. Ohne Registrierung gibt es aber keine Leistungen, keinen Zugang zu Sprachkursen, zur Gesundheitsversorgung und vieles mehr. Zivilgesellschaftliches Engagement kann bei alledem zwar unterstützen, aber nicht die staatlichen Aufgaben ersetzen.
Was es gerade in Hessen dringend bräuchte, ist eine koordinierende Stelle auf Landesebene, die unter anderem dafür sorgt, dass das Behördenhandeln in Hessen möglichst einheitlich erfolgt. Eine solche Stelle fehlt hier nach wie vor, genauso wie eine verbindliche und regelmäßige Kommunikation und Zusammenarbeit des Landes mit Verbänden und Kirchen. Dies ist bedauerlicherweise auch im neuen “Aktionsplan Ukraine” der hessischen Landesregierung nicht vorgesehen.
Das Interview führte die Diakonie Hessen zusammen mit Menschen-wie-wir.de – dem gemeinsamen Internetportal von Diakonie Hessen, der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck und der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau.
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