Blog - Teil 4
Niemand soll vergessen werden
bbiew10.10.2017 bbiew Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
„Zieht Euch auf Lesbos warm an“, hatte uns Paul Esser in Thessaloniki mit auf den Weg gegeben. Dabei spielte der Sozialarbeiter des Flüchtlingsprojekts Naomi nicht auf das Wetter oder die Temperaturen an, sondern auf die Situation der Geflüchteten.
In Pikpa, einem selbst organisierten Camp von griechischen und internationalen Freiwilligen auf Lesbos, begegnen wir Travolta. „Cut, cut, cut“, ruft er. Der 26jährige aus Kamerun ist an Händen und Füßen verstümmelt. Regierungssoldaten, so sagt er, hätten ihm seine Zehen und Finger abgeschnitten. Travolta will nach Deutschland und fragt, ob es dort auch Prothesen für die Hände gebe.
Ein Flüchtlingslager mit menschlichem Antlitz
Im Camp Pikpa leben rund 100 Geflüchtete unter menschenwürdigen Bedingungen. Die Freiwilligen haben dort Menschen aufgenommen, die es am schwersten haben. Kranke, Traumatisierte aus Kriegsgebieten, Menschen, die sexuelle Übergriffe erlitten hatten, Schwangere, Frauen mit Kindern und Menschen mit Behinderung. Die Kinder, dafür hat Lesvos Solidarity, die Organisation der Freiwilligen gesorgt, besuchen eine griechische Regelschule. Alle Campbewohner, so erzählt uns die griechische Freiwillige Dimitra, haben auf ihrer Flucht eine oder mehrere Angehörige verloren. So kam ein Familienvater bei der Überfahrt auf dem Mittelmeer ums Leben, als er versucht hatte, das Leben anderer Kinder zu retten.
Dimitra berichtet auch, dass sich einige Campbewohner Anfang des Jahres mit Lebensmitteln und Decken auf den Weg machen wollten. Sie hatten gehört, dass ein Erdbeben den Süden der Insel erschüttert hatte und Häuser eingestürzt waren. Zur Begründung sagten die Geflüchteten: „Wir wissen, wie es ist, wenn man sein Haus verliert. Wir wollen dorthin und helfen“. Auch deutsche Freiwillige sind im Camp Pikpa aktiv. In der Kleiderkammer, in der sich Geflüchtete mit gespendeten Schuhen und Kleidungsstücke versorgen können, ist zum Beispiel Sarah tätig. Sie stammt aus Darmstadt, kam vor einem Monat auf Lesbos an und will insgesamt ein halbes Jahr als Freiwillige arbeiten.
Zwischen Village und Gefängnis
Als wir in Karatepe, einem von der Stadt Mytilini betriebenen Flüchtlingslager ankommen, fährt dort gerade ein Bus vor, aus dem Flüchtlingsfamilien steigen. Sie kommen direkt auf Moria, dem Hotspot, Registrierungszentrum und größten Flüchtlingslager auf Lesbos. In Karatepe werden ausschließlich Familien untergebracht. Sie leben dort in Containern. Stavros Mirogiannis, der Leiter des Lagers, sagt uns, Karatepe sei kein Lager mehr, sondern ein „village“, ein Flüchtlingsdorf. Die Flüchtlinge könnten kommen und gehen. Unter den 1000 Bewohnern seien etwa ein Drittel Kinder und Jugendliche. Für sie gebe es Unterrichtsräume, Spielplätze und einen Kindergarten.
Die Lage in Karatepe ist mit der in Moria auch kaum vergleichbar. Die Flüchtlinge leben in dieser ehemaligen Militärkaserne hinter Mauer und Stacheldraht. Privatpersonen haben dort keinen Zutritt. Moria wirkt wie ein Gefängnis und bietet Platz für 2.500 Flüchtlinge, derzeit leben dort über 6.000. Das Lager, in dem hauptsächlich Männer ohne Familie wohnen, ist hoffnungslos überfüllt. Viele sind in Zelten untergebracht. Im Januar gab es drei Tote, als Flüchtlinge in ihren Zelten Feuer machten, um sich zu wärmen. Jeder auf Lesbos weiß, dass man im Winter nicht in Zelten leben kann, empören sich die Freiwilligen von Pikpa. Wegen der bedrückenden Situation komme es in Moria vermehrt zu Drogen- und Alkoholmissbrauch, es gebe Selbstmorde und Vergewaltigungen unter jungen Männern.
Fast jeden Tag kommen neue Flüchtlingsboote
Das im März vergangenen Jahres in Kraft getretene EU-Türkei-Abkommen hat auf Lesbos zu einem Flüchtlingsstau geführt, sagen uns die Freiwilligen von Lesvos Solidarity. „Das hat die Gewalt in Moria potenziert“, betont Dimitra. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex patrouilliert nach wie vor mit Schiffen die Meerenge zwischen der Türkei und Lesbos. Zum Einsatz kommen aber nicht mehr wie im vergangenen Jahr große Kriegsschiffe, sondern Polizeiboote. Dennoch kamen in den letzten beiden Monaten nahezu jeden Tag Flüchtlinge mit Schlauchbooten auf Lesbos an. Allein gestern legten zwei Boote im Norden und zwei im Süden der Insel an. Eigentlich sollen sie nach dem EU-Türkei-Deal zurückgeschickt werden. Doch die griechische Justiz will keinen Persilschein ausstellen und die Türkei aus sicheren Drittstaat einstufen. So können die Flüchtlinge den Rechtsweg beschreiten - bislang.
Angst vor Abschiebung
Doch das höchste griechische Gericht, der Council of State in Athen, hat jetzt im Fall von zwei Syrern entschieden, dass die Türkei ein »sicheres Drittland« sei und die Syrer demnach abgeschoben werden können. Mit einer hauchdünnen Mehrheit von 13 gegen 12 Stimmen scheiterte im 25-köpfigen Richtergremium auch der Antrag, die rechtlichen Fragen zur Auslegung der »sicheren Drittstaaten«-Regelung dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg vorzulegen. Das Athener Urteil stellt nach Ansicht von Pro Asyl einen bedrohlichen Präzedenzfall auch für viele andere Schutzsuchende dar, die derzeit auf den griechischen Inseln festsitzen. Ihnen droht die Abschiebung in die Türkei.
Noch ist die Solidarität vieler Griechen mit den Geflüchteten groß. Doch, so hören wir immer wieder, etliche seien mit ihren Kräften am Ende. Kein Wunder in einem Land, das von hoher Arbeitslosigkeit und einer Finanzkrise gebeutelt ist. „Was können wir tun?“, fragten die Ehrenamtlichen aus Deutschland. Von Lesvos Solidarity bekamen sie diese Antwort: „Redet über Lesbos, gebt den Flüchtlingen das Gefühl, dass sie nicht vergessen werden und setzt Euch für eine Lösung ein, die den Geflüchteten und den verarmten Griechen gleichermaßen zugutekommt.“
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