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Attentat Hanau

Offener Brief

In einem Offenen Brief hat sich Serpil Temiz Unvar an den Bundespräsidenten und die Bundesregierung gewandt und fordert Unterstützung im Kampf für Aufklärung und Gerechtigkeit für alle Betroffenen und Hinterbliebenen rechter Gewalt und rechten Terrors. Ihr Sohn Ferhat war am 19. Februar 2020 bei dem Anschlag von Hanau erschossen worden.

Initiative 19. Februar Hanau

Sehr geehrter Herr Bundespräsident Steinmeier,
sehr geehrter Herr Bundeskanzler Scholz,
sehr geehrter Herr Minister Habeck,
sehr geehrter Herr Minister Lindner,


am Samstag werden zwei Jahre vergangen sein, seit mein Sohn und acht weitere junge Menschen in Hanau aus rassistischen Motiven ermordet wurden. Zwei Jahre sind vergangen und noch immer warten wir auf Antworten. Antworten auf Fragen, die uns quälen.

Der Untersuchungsausschuss im Hessischen Landtag hat mittlerweile seine Arbeit aufgenommen. Nachdem wir fast 2 Jahre von den Verantwortlichen in Hessen mit Worten vertröstet, aber doch wie Menschen zweiter Klasse behandelt wurden, gibt es jetzt eine kleine Chance, dass Versäumnisse und Fehler eingestanden werden. Wenn dies tatsächlich passieren sollte, dann nur, weil wir seit 2 Jahren jeden Tag kämpfen, anstatt in Ruhe trauern zu können. Hätten wir nicht gekämpft, hätte sich nichts bewegt.

Und selbst das ist nicht selbstverständlich. Nach Hanau geschah etwas, das sehr häufig in der jüngeren deutschen Geschichte nicht geschah: Dieses Mal hörte man den Hinterbliebenen zu, man sagte die Namen der Opfer und sprach über ihre Geschichten. Schauen Sie auf die vielen Morde, die von Neonazis in Deutschland verübt werden: Wer kennt die Namen der Getöteten und Verletzten? Was machen die Hinterbliebenen? Haben sie Gerechtigkeit erfahren, haben sie Unterstützung bekommen? Viel zu oft lautet die Antwort: Nein. Wir, die Familien aus Hanau, sind nicht die ersten, die kämpfen, aber vielleicht die ersten, denen man wirklich zuhört.

Ich wende mich heute an sie, weil sie als Repräsentanten der neuen Bundesregierung und als wiedergewählter Bundespräsident für uns die Hoffnung verkörpern, dass sich etwas ändert. Der letzte deutsche Innenminister sagte noch „Migration ist die Mutter aller Probleme“, seit ein paar Monaten sprechen wir stattdessen endlich über Rechtsextremismus. Das ist gut. Und dennoch: Die Veränderung hat zwar begonnen, aber sie steht noch am Anfang und muss weitergehen. Denn es reicht nicht, dass man mit uns Interviews führt, dass man uns die Hände schüttelt, uns Beileid ausspricht und sich Politiker mit uns fotografieren lassen. Es ist noch nichts geschafft.

Wie soll es weitergehen? Es gibt viele Wege und auch viele Vorschläge. Doch heute, wenige Tage vor dem 19. Februar, möchte ich Sie an eine Sache erinnern, die in Zeiten des Aufbruchs gerne vergessen wird: Es wird keine bessere Zukunft geben, wenn das Vergangene nicht aufgeklärt wird, wenn es keine Gerechtigkeit gibt für die, die angegriffen und ermordet wurden. Denn das Vergangene lebt in uns allen fort, in den Hinterbliebenen und Zurückgelassenen, aber auch in der Geschichte unserer Gesellschaft. Und wenn wir über mangelnde Aufklärung sprechen, dann geht es um mehr als um Hanau, dann müssen wir auch über die Aufklärung der rassistischen Taten der letzten 30 Jahre sprechen.

Ich bitte Sie heute: Unterstützen Sie uns in bei unserem Kampf für Aufklärung und Gerechtigkeit in Hanau – und darüber hinaus. Hören Sie endlich auch all die anderen Betroffenen und Hinterbliebenen rechter Gewalt und rechten Terrors, gerade jetzt, wo die dreißigsten Jahrestage der vielen Anschläge der Jahre 1992 und 1993 anstehen. Wagen Sie einen Neuanfang, rollen Sie die Geschichten neu auf, sorgen Sie für das, was viel zu lange nicht geschah: Verteidigen Sie, anders als ihre Vorgänger, die Opfer und Hinterbliebenen gegen den Rechtsextremismus. Sorgen Sie für einen Neuanfang und sorgen Sie endlich für angemessene Entschädigung und Unterstützung der Hinterbliebenen.

Viele Mütter haben geweint. Viele haben zu uns gesprochen, aber ihnen wurde nicht zugehört. Wenn sie es ernst meinen, wenn sie tatsächlich „Fortschritt wagen“ wollen, müssen Sie zurückschauen, zurück in ihre Geschichten und auf das, was in den letzten Jahrzehnten geschehen ist. Denn Hanau war nicht der Anfang.

Mit freundlichen Grüßen
Serpil Temiz Unvar

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