Einbahnstraße
Von Wael Deeb
Ein Teil des Gesichts ist entfremdet... Guten Morgen, mein Kind, das auf meinem Kissen schläft. Ich überprüfe meine Träume und einen Brief, den ich gestern von einem Amt erhalten hatte. Beim Lesen schlief ich ein. Ich schaue ich aus dem Fenster Richtung Bahnhof. In alle Richtungen gehen Rufe an Reisende. Ich erinnere mich an den Norden. Und frage den Spiegel, wer gibt mir seine Zöpfe, damit ich meine Erinnerungen begraben kann.
Der Norden ist unser Ziel... Draußen waren wir Gefangene... Der Wind heult, durchdrungen vom Klang der Schüsse... Wir fliehen von Gasse zu Gasse... Die Flugzeuge bombardieren uns... Wir singen... Wir wollen nur leben, wie die Menschen im Norden leben... Wir tanzen, ergeben uns der Musik, dem Rhythmus der modernen französischen Revolution... Der Geruch des Todes in der Luft bricht uns, also schreiben wir unser letztes Testament, der Norden ist unser Ziel.
In einem Schlauchboot folgen wir der Mischung aus dem Horizont und der blauen Farbe des Meeres... Ein Kind weint auf dem Arm seiner Mutter, bevor es von den Fischen verschlungen wird. Eine Frau schneidet ihre Haarsträhnen ab und streckt sie dem Tod entgegen... Wir fallen wie Fliegen... Wir zählen die Boote der Ertrunkenen... Hier treibt ein Reisepass an der Oberfläche des Meeres, er schwimmt einsam in Richtung Norden... Ich denke... Ich denke nicht.
Ein vorbeikommender Bootsfreund erzählt mir von seiner langen Reise seit seiner Kindheit in den Norden ... von Sklaverei, vom Hunger, von den langen Tagen, die er in einem dunklen Tunnel verbrachte und darauf wartete, dass er an die Reihe kam, an Bord des Bootes zu gehen ... Wir haben keine Zeit, unsere Verluste zu zählen, sage ich ... wir paddeln mit unseren Nägeln gegen alle Gesetze der Schwerkraft und der Gezeiten. Der Norden ist unsere Richtung und unser Ziel.
Jahre später erwache ich aus einem Albtraum, der mich nicht verlässt, und frage diejenigen, die unsere Reise überlebt haben: Haben sie die Prüfung im kalten Norden bestanden?
Ich eile zum Bahnhof, um den Zug in Richtung Norden zu nehmen... Die Nord-Bürokratie zerschmettert uns auf ihren Felsen und verwandelt uns in Nummern in den Aufzeichnungen der Behörden. „Dieses Land ist eine Einbahnstraße“, sagt der Mitreisende neben mir und fasst das Problem der Migranten zusammen. „Hier sind illegale Menschen... Sie haben sich eingeschlichen und unsere Grenzen überschritten. Was erwarten sie von uns?“
…Wenn man die Fenster zu weit aufmacht, kommt auch viel Ungeziefer mit rein…
Eine andere Reisende im Zug beschwert sich darüber, dass ihre Reise stundenlang verspätet war. Jemand warf sich unter die Bahngleise und beging Selbstmord. Ich denke an Ungeziefer, Wegbeschreibungen und den Brief, den ich gestern erhalten habe. Dann frage ich mich, ob die Welt eine Einbahnstraße ist.
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Über den Autor
Wael Deeb ist syrischer Journalist. Vier Jahre studierte er in Damaskus Journalismus und arbeitete anschließend acht Jahre in seinem Beruf. Im Mai 2014 floh er aus Syrien. In Deutschland absolvierte er das C1 Sprachniveau auf Deutsch. 2018 machte er ein Praktikum bei einer Tageszeitung in der Wetterau und ein Praktikum bei der Multimedia-Redaktion im Medienhaus der EKHN. Seit 2018 arbeitet er im Redaktionskreis von www.menschen-wie-wir.de. Seit 2019 studiert Wael Deeb Soziale Arbeit an der Hochschule Darmstadt.