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Herzen zwischen zwei Welten ...

mehdi shojaeian/CC 4.0 InternationalEin Bild der Zerstörung: Beirut nach der verheerenden Explosion am 5. August 2020.

Von Wael Deeb

Als die arabischen Medien über die massive Explosion in Beirut berichteten, war ich auf einem kurzen Spaziergang durch die schöne und ruhige Landschaft rund um Frankfurt, der Finanzhauptstadt Deutschlands. Seit Monaten bemühe ich mich, das enorme Gewicht wieder zu verlieren, das ich in letzter Zeit durch stundenlanges Sitzen vor dem Computerbildschirm erlangt habe, nachdem sich alles auf dieser Welt in eine virtuelle Realität verwandelt hat, verursacht durch das Corona-Virus.

Um fair zu sein, Fettleibigkeit und das Halten von Haustieren sind für mich oft erste Merkmale der Stabilität von Geflüchteten. Es startet mit Erstaunen und Fremdheit und geht über zur Akzeptanz der Realität und dem Beginnen des Integrationsprozesses.

Anruf aus Beirut

Mein Handy klingelte, ich hörte auf der anderen Seite die Stimme eines alten Freundes, der aus der Hölle des Syrienkrieges nach Beirut geflohen war. Er hatte einen Job gefunden, mit dem er seinen Lebensunterhalt verdienen konnte und nun begann seine anstrengende Suche, die ihn durch die Botschaften der Welt führte in der Hoffnung, ein Visum zu erhalten, das ihn nach Europa, Kanada oder Amerika bringen würde.

Er erzählte mir mit müdem Atem, dass die ganze Stadt zerstört wurde und der Geruch von Blut überall in der Luft hing. Er fragte mich: Träumst du immer noch davon, an diesen geografischen Ort zurückzukehren, der nichts anderes mehr ist als eine Ruine?

Seine Frage schockierte mich mehr als die Explosion in Beirut, vielleicht, weil ich seit Jahren schon die Hoffnung auf eine glänzende Zukunft für mein Land aufgegeben hatte und mich mehr mit meiner neuen Definition meiner Identität versöhnte.

Ich bin ein halber deutscher Staatsbürger, stelle meine Füße auf den Boden meiner neuen Zukunft, übe einen neuen Beruf aus. Alles in dem Versuch, mit der Vergangenheit zu brechen, zu der ich gehöre.

Vielleicht weil ich tief im Bewusstsein erkannte, dass die junge arabische Generation, diese arabischen Jugendlichen, die versuchten, die Realität zu verändern und von Freiheit träumten, diese nie erlangen würden. Diese Generation war zerbrochen, auseinandergerissen und hatte sich in Flüchtlinge auf der ganzen Erde verwandelt. Meine Generation konnte die Träume von Freiheit nicht verwirklichen, wir haben es versucht, aber wir schafften es nicht.

Ich beantwortete seine Frage nicht und beendete den Anruf mit den Worten des Hilflosen, der versuchte, eine tote Hoffnung in sich zu vertreiben und ich kehrte schnell zu meinem Haus zurück, in der Hoffnung, dass wir zumindest unser Gespräch am Abend fortsetzen könnten ...

Am Abend

Eine der Auswirkungen der Fragilität von Flüchtlingen sind die Fragen, die sich in ihren Köpfen stellen und die sich aus den einfachsten täglichen Ereignissen ergeben, wie zum Beispiel die Neudefinition des Selbst, der Zugehörigkeit und der Identität. Werde ich wirklich deutscher Staatsbürger mit einem arabischen Nachnamen, harten Gesichtszügen und einer Sprache, die ich nur schwach beherrsche?

Um vor vielen Fragen davonzulaufen, die in meinem Kopf wüteten, eilte ich zu meiner Facebook-Seite. Die blaue Seite war gefüllt mit Bildern der libanesischen Flagge, Szenen von der Explosion und Sympathie-Posts mit der betroffenen Stadt.

Ich versuchte, meiner deutschen Freundin an der Universität zu schreiben, erklärte ihr hastig, was passiert war, und übermittelte ihr meine Besorgnis über den Ausbruch eines neuen Krieges im Nahen Osten. Ich hoffte eine andere Meinung über die Ereignisse in meinem Land zu hören. Aber sie antwortete mir sehr kurz, dass sie sich darauf vorbereitete, ins Kino zu gehen, und dass ihre Zeit nicht für ein kurzes Gespräch ausreichte, aber sie versicherte mir, dass Beirut weit ist und dass der Krieg Deutschland nicht erreichen werde und dass wir hier ein integriertes System der Krankenversicherung und der sozialen Dienste genießen und dass ich glücklich darüber sein muss, dass ich hier bin ...

Ich war mit meiner Freundin einverstanden. Ich bin wirklich zufrieden mit der Menge an perforiertem Gedächtnis, das ich habe, und der Menge, die ich von dieser tiefen Verbindung befreie, die mich immer daran erinnert, dass ich von dort, von einem anderen Ort komme. Dieser Ort ist erschreckend und brutal. Er birgt alle Widersprüche, aber es gibt jeden Tag Dutzende von Menschen, die an Hunger, Unterdrückung und Entbehrung sterben, während ich hier mit allem gesegnet bin, was sie erwähnt hat.

Vor ein paar Tagen...

Mit der Bekanntgabe der Schulzeugnisse in Deutschland verbreiteten sich in den sozialen Medien Fotos von Flüchtlingsschüler*innen, die besonders gute Noten erzielt hatten. Sie seien ein Beispiel für die erfolgreiche Integration von Flüchtlingen in ihre neue Gesellschaft.

Ich wundere mich, wie einige Medien über die „Erfolge von Flüchtlingen“ berichten. Sind es nicht Neubürger, Menschen, die hier leben? Aber abgesehen davon, freue ich mich, dass Schüler und Schülerinnen, die mit mir einen Teil meiner Identität teilen, sehr gute Erfolge leisten können.

Ich war begeistert und führte ein kurzes Interview mit einer herausragenden Schülerin, die mir erzählte, dass ihre Träume darin bestehen, eine gute Ausbildung zu erhalten und dann in ihre vom Krieg zerstörte Heimat zurückzukehren, um zum Wiederaufbau beizutragen. Ihre Antwort schien mir eine Traditionelle zu sein, die von allen Flüchtlingen verwendet wurde, um sich zu beweisen, dass sie immer noch eng mit ihrer Mutteridentität verbunden sind und dass sie diesen geografischen Raum, der ihre Erinnerungen teilt, nicht vergessen haben.

Ich fragte sie, ob es nicht egoistisch sei in ihr Heimatland zurückzugehen, nachdem diese Länder uns Bildungschancen gegeben haben und sie viel Geld dafür ausgegeben haben? Ist es nicht unsere moralische Pflicht, hier zu bleiben und den Gefallen zu erwidern? Sie antwortete, dass ihr eine Integration unmöglich erscheint, solange ein Kind in ihrem Mutterland stirbt und nicht genügend medizinische Versorgung findet, damit es überlebt.

Corona des Heimatlandes

Als Flüchtlinge teilen wir seit Monaten mit der gesamten Bevölkerung der Erde die Auswirkungen der Corona-Krise auf das öffentliche Leben. Während der Ausbreitung des Virus scheint niemand in der Lage, etwas dagegen tun zu können. Es gibt noch keine Medikamente oder Impfstoffe. Trost ist, dass alle die gleichen Lebensereignisse teilen, mit einem Unterscheid. Wir Flüchtlinge haben eine doppelte Angst, zuerst Angst um uns selbst, dann Angst um diejenigen, die wir in unseren armen Ländern zurückgelassen haben, die durch Kriege erschöpft sind, in denen es keine Krankenhäuser oder Gesundheitsversorgung gibt.

Wir erhalten jeden Tag Dutzende von Bildern aus unseren Heimatländern über Menschen, die nicht mehr atmen könnten oder auf öffentlichen Straßen gestorben sind. Wir erhalten Bilder von Menschenmassen vor Bäckereien und Lebensmittelgeschäften, die Menschen aufsuchen müssen, um die Notwendigkeiten für ihr Leben zu sichern. Ein Flüchtlingsfreund, der hier lebt, erzählte mir, dass er nach einem kurzen Telefongespräch mit seinem Vater sehr traurig war. Er hatte seinen Vater aufgefordert, Vorsichtsmaßnahmen gegen das Virus zu ergreifen. Sein Vater antwortete ihm, dass er bereit sei, in eine endlose Quarantäne einzutreten und dort den Rest seines Lebens zu verbringen, wenn sein Sohn ihn mit dem Lebensnotwendigsten versorgen würde.

Zufriedenheit ist eine verbotene Handlung

Meine Arbeit in einer Einrichtung der stationären Jugendhilfe ermöglichte es mir, Dutzende von Geschichten, Träumen und Hoffnungen von Flüchtling zu teilen. Was mir am meisten in Erinnerung geblieben ist, ist, wie sie sich fühlten, als sie 18 Jahre alt wurden und man ihnen erlaubte, in eigene Wohnungen zu ziehen. Als ich einmal fragte: „Wie sieht das Leben mit eigener Wohnung aus?“, da antwortete jemand: „Es ist auf jeden Fall besser.“

Was mich überraschte war jedoch ein Kommentar von seinem Betreuer. Er sagte: „Flüchtlinge dürfen in unserem Land nicht zufrieden sein, da die Zufriedenheit zu einem Vergleich führt zwischen der Situation in Deutschland und ihrem Heimatland. Und diese Ungleichheit wird zum Teil der Person.“  

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Über den Autor

Wael Deeb ist syrischer Journalist. Vier Jahre studierte er in Damaskus Journalismus und arbeitete anschließend acht Jahre in seinem Beruf. Im Mai 2014 floh er aus Syrien. In Deutschland absolvierte er das C1 Sprachniveau auf Deutsch. 2018 machte er ein Praktikum bei einer Tageszeitung in der Wetterau und ein Praktikum bei der Multimedia-Redaktion im Medienhaus der EKHN. Seit 2018 arbeitet er im Redaktionskreis von www.menschen-wie-wir.de. Seit 2019 studiert Wael Deeb Soziale Arbeit an der Hochschule Darmstadt.

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