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Niemand muss auf der Straße leben?!

Vorurteile gegenüber Obdachlosen

bodnarchuk/istockphoto.comJunger Obdachloser auf der StraßeJunger Obdachloser auf der Straße

Sie sind fast immer betrunken, riechen stark und grölen zu allem Überfluss herum: Obdachlose. So ist der typische Obdachlose in vielen Augen. Bettina Bonnet, Sozialarbeiterin in einer Sozialstation für Obdachlose, erklärt, was es wirklich heißt, obdachlos zu sein und was an unseren Vorurteilen wahr ist.

Jetzt im Winter hat man das Gefühl, dass U-Bahn Stationen und Bahnhöfe von Obdachlosen geradezu überrannt werden und dass es Jahr für Jahr mehr werden. Das Gefühl liegt hier richtig. Die Zahl der Obdachlosen ist den letzten zehn Jahren dramatisch gestiegen. 2008 gab es in Deutschland noch etwa 227.000 Menschen ohne festen Wohnsitz. 2018 sind es schätzungsweise 520.000 Menschen. Dabei sind Flüchtlinge ohne Wohnsitz nicht eingerechnet, die die Zahl auf deutlich über eine Million steigen lassen. Wie viele dieser Menschen tatsächlich auf der Straße leben ist nicht genau bekannt. Erst kürzlich musste die Bundesregierung einräumen, keine genauen Zahlen zur Obdachlosigkeit zu haben.

Diakoniezentrum WESER 5

Die Gründe für diese Zunahme sind zahlreich und oft sehr individuell. Trotzdem werden Obdachlose immer wieder in die gleiche Verpackung gesteckt: Sie stinken, erbetteln Geld, das nur für Alkohol ausgegeben wird, und wollen weder arbeiten, noch ihr Leben in den Griff bekommen. Was an diesen Klischees Realität und was nur Vorurteil ist erklärt Bettina Bonnet aus dem Frankfurter Diakoniezentrum WESER 5. Dort können Obdachlose für bis zu zehn Tage unterkommen und Kraft tanken. Außerdem bekommen sie bei Bedarf Hilfe bei bürokratischen Aufgaben.

Obdachlose sind zu faul zum Arbeiten!

„In der Regel sind Obdachlose überhaupt nicht arbeitsfähig. Stellen Sie sich vor, Sie leben auf der Straße, können sich nachts nicht richtig erholen und sollen dann noch acht Stunden arbeiten. Trotzdem gibt es einige Obdachlose die tatsächlich arbeiten – sogar einen Arbeitsvertrag haben. Das Problem ist, dass es gerade in Frankfurt und anderen Großstädten unheimlich schwer ist, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Diese Leute kommen dann zu uns, um zu duschen und sich zu pflegen, damit Sie noch den Anschein wahren können, ein Dach über dem Kopf zu haben. Das ist meistens gar nicht so einfach und hat nichts mit Faulheit zu tun.“

Jeder Obdachlose könnte auch eine Wohnung bekommen!

„Das gestaltet sich oft schwieriger als man denkt. Wo es keine Wohnungen gibt, kann auch niemand einziehen. Als Obdachloser oder Hartz 4-Bezieher  ist die Chance nur sehr gering, eine Wohnung auf dem „regulären“ Wohnungsmarkt zu bekommen. Bevor Sie überhaupt in das Verfahren für eine Sozialwohnung kommen, muss belegt werden, dass Sie schon mindestens ein Jahr in der Stadt, in der die Wohnung sein soll, leben. Das ist nicht ganz einfach für Obdachlose. In Frankfurt kann der Prozess von Antrag bis zur Wohnung mehrere Jahre dauern.“

Arbeitslose haben das Recht auf Hartz 4 – also auch Obdachlose. Warum sollte ich dann Geld geben?

„Jeder Arbeitslose bekommt als Regelsatz 424 Euro, wenn nichts dazwischen kommt. Viele Obdachlosen haben Sanktionen vom Jobcenter, sodass die Summe häufig nicht so hoch ausfällt. Wenn Sie jemand um Geld bittet, fragen Sie einfach, warum er Geld braucht und ob er/ sie kein Hartz 4 oder andere Leistungen bezieht. Die Obdachlosen, die kein Harz 4 bekommen, sind oft Ausländer, die nie in Deutschland gemeldet waren oder hier gearbeitet haben. Deshalb haben sie keinen Anspruch auf das deutsche Harz 4. Es gibt auch Obdachlose, die bewusst ohne Sozialleistungen leben, weil sie Behörden meiden wollen. Wer keine Leistungen bezieht, ist in der Regel nicht krankenversichert. Das ist ein großes Problem! Obdachlose ohne Sozialleistungen können Sie zu Hilfseinrichtungen, wie WESER 5 schicken. Es kommt immer wieder vor, dass Obdachlose noch keine Anlaufstelle haben. Außerdem bieten wir Begleitung zu den zuständigen Behörden an, um mit ihnen Sozialleistungen zu beantragen.“

Obdachlose kaufen von ihrem Geld nur Alkohol und Zigaretten!

„Ich würde nicht sagen unbedingt und immer. Nur bei wenigen sind Suchtmittel der zentrale Kostenpunkt. Es gibt solche und solche. Ich erlebe auch Obdachlose, die ihr Geld in wirklich sinnvolle Ausrüstung usw. investieren. Eigentlich habe ich aber nicht das Recht dazu, für Menschen zu bestimmen wofür Sie ihr Geld ausgeben sollen. Deswegen kann ich auch keine genauen Zahlen nennen, wie viel Geld genau in den Alkohol fließt. Obdachlose haben das Recht, Alkohol zu kaufen oder Alkoholiker zu sein. Natürlich könnten die Obdachlosen, genau wie jeder andere, daran etwas ändern. Dafür muss aber der eigene Wille etwas zu ändern da sein – dann helfen wir gerne einen Platz in einer Entzugsklinik zu finden.“

Die meisten Obdachlosen sind aggressiv oder geistig gestört!

„Die Leute, die aggressiv sind oder vor sich hin reden, sind die, die auffallen. Die Situation wirkt dadurch oft schlimmer als sie ist. Vor allem sind diese Erkrankungen, z.B. Schizophrenie, in vielen Fällen unbehandelt und kommen in vollem Umfang zu Tage. Bei Schizophrenie hören Betroffene Stimmen in Ihrem Kopf, die zu auffallendem Verhalten führen können. Gerade diesen Leuten müssen wir helfen, damit Sie wenigsten ihre Sozialleistungen bekommen. Wenn die Erkrankungen so fortgeschritten sind, dass sie eine akute Eigen- und Fremdgefährdung darstellen, werden die Betroffenen behandelt. Ansonsten sagt man, dass Menschen, wie bei Alkohol, das Recht haben, mit ihrer psychischen Erkrankung zu leben und sich nicht behandeln lassen müssen.“

Obdachlose riechen, weil ihnen Körperpflege egal ist!

„Die besonders schlimmen Fälle von Verwahrlosung und Geruch gehen zum größten Teil mit psychischen Erkrankungen einher. In diesen Fällen kann man nicht sagen, dass es ihnen egal ist, dass sie ungepflegt sind, weil das Bewusstsein für derartige Dinge nicht mehr unbedingt vorhanden ist. Es gibt aber auch Obdachlose, vor allem die Einzelgänger, die bewusst kein Wert auf Körperpflege legen, weil sie andere Schwerpunkte gesetzt haben. Mit der Zeit verliert auch diese Gruppe das Bedürfnis und das Bewusstsein für die Körperpflege. Stark riechenden Obdachlosen, die zu uns kommen, legen wir nahe, sich zu pflegen und zeigen ihnen Anlaufstellen, an denen das gut möglich ist. In unserem Tagestreff gibt es die Möglichkeit, die Kleidung waschen zu lassen und neue Klamotten zu bekommen.“

Die können nichts dafür, dass sie auf der Straße gelandet sind!

„Klassische Gründe für Obdachlosigkeit sind Familienangelegenheiten, finanzielle Probleme, Krankheiten oder eine Mischung aus allem zugleich. Die Leute werden so aus der Bahn geworfen, dass Sie es nicht selbst schaffen, sich ein neues Leben aufzubauen. In solchen Situationen lassen sich die Betroffenen oft nicht helfen – was gute Gründe hat. Jeder, der nicht auf der Straße landen will, versucht alles, was in seiner Macht steht, um das zu verhindern. In den Situationen, die zur Obdachlosigkeit führen, haben Betroffene allerdings nicht viel in ihrer Macht stehen, weil sie überfordert sind, alles zu schnell geht, einsam sind oder in Depressionen verfallen. Angesichts dieser Umstände ist es unfair den Obdachlosen die Schuld für ihre Situation zu geben.  Andere kommen in die großen Städte, um zu arbeiten und denken sie können auf die Schnelle eine Wohnung finden. Das funktioniert in den wenigsten Fällen und endet oft nach einigen Zwischenstationen bei Familie, Bekannten und Freunden auf der Straße. Das kann man aber nicht Schuld, sondern vielmehr Fehleinschätzung oder zu großen Optimismus nennen.“

 

Weitere Informationen zu WESER 5 und finden Sie hier:

WESER 5 Diakoniezentrum                                                                                      

Informationen zur Obdachlosenarbeit:

Diakonie Obdachlosenarbeit

 Konrad Waßmann

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